Antwort schreiben 
 
Themabewertung:
  • 1 Bewertungen - 5 im Durchschnitt
  • 1
  • 2
  • 3
  • 4
  • 5
Phryger = Seevölker in Anatolien?
08.03.2016, 16:17
Beitrag: #173
RE: Phryger = Seevölker in Anatolien?
(05.03.2016 17:24)Bunbury schrieb:  Mich würde interessieren, von welcher Personenanzahl du ausgehst. Soweit ich weiß, ist die genaue Anzahl nirgendwo überliefert, und keiner kann so genau sagen, ob die ganzen Berichte unterschiedlicher Quellen Mehrfachzählungen enthalten.

Wie viele Menschen die so genannten Seevölker umfassten, ist natürlich nicht bekannt. Immerhin aber waren die wandernden Bevölkerungsgruppen so stark, dass sie wie die Philister einen Staat bilden konnten oder den Pharao in der berühmten Schlacht im Nildelta einen langen Kampf lieferten - bei dem sie allerdings unterlagen. Der Angriff der Seevölker veranlasste Ramses III. um 1180 zu diesem Text aus seinem Totentempel in Medinet Habu:

"15 Ich [Ramses III] schütze es [Ägypten], (16) indem ich (für es) die Neunbogen abwehre. Die Fremdländer vollzogen alle zusammen die Trennung von ihren Inseln. Es zogen fort und verstreut sind im Kampfgewühl die Länder auf einen Schlag. Nicht hielt irgendein Land vor ihren Armeen stand; und die Länder von Ḫatti, Qadi, Qarqemiš, Arzawa, (17) und Alasia an waren (nun) entwurzelt auf [einen Schlag]. Es wurde ein Lager aufgeschlagen an einem Ort im Inneren von Amurru. Sie vernichteten seine Leute und sein Land, als sei es nie gewesen. Sie kamen nun, indem die Flamme vor ihnen bereitet war, vorwärts gegen Ägypten, ihre Zwingburg (?). (18) Die Peleset, Tjeker, Šekeleš (Schekelesch), Danunäer und Wašaš, verbündete Länder, legten ihre Hände auf alle Länder bis ans Ende der Welt; ihre Herzen waren zuversichtlich und vertrauensvoll: Unsere Pläne gelingen.“
Auszug aus der Inschrift im Totentempel des Ramses III. in Medinet Habu

Das klingt nicht gerade nach einer kleinen Zahl.

Nachweislich hat der Zusammenbruch der mykenischen Staatenwelt und der anschließende Einbruch der Dorer achäische Migrationen der dorischen Vorbevölkerung ausgelöst. Die Dorer selbst griffen nach Kreta aus und besetzten es, was zu weiteren Auswanderungen geführt hat.

Ob es nun konzertierte Aktionen der Seevölker gab, ist umstritten. Auf jeden Fall gab es um 1200 v. Chr. Migrationsbewegungen im östlichen Mittelmeerrraum, die wie ein Dominoeffekt wirkten. Was das Herhiterreich betrifft, so war es um 1200 v. Chr. bereits durch Thronkämpfe und innere Wirren erschüttert. Züge plündernder Gruppen aus der Ägäis mögen dem Reich den Rest gegeben haben. Die Hauptstadt Hattusa soll bereits vor Ankunft solcher Gruppen verlassen gewesen sein. In einer Inschrift des Merenptah heißt es:

"Die Länder der Hethiter fallen, wie beim Anblick nahender Windhunde, auf die Knie. Bleibende Angst für die Herzen der Mešweš, zerbrochen ist das Land Tjemhu. Lebu wurde aus unserem Ta Meri („Geliebtes Land“) verdrängt; es kann nun wieder die Strahlen von Aton sehen, weil das Unwetter über Kemet verjagt wurde."

Der US.Professor Assaf Ysur-Landau schreibt dazu in einer lesenswerten Publikation:

Zitat:Die Wanderung der "Seevölker", unter ihnen auch die Philister, von der Ägäis in die Levante während des frühen 12. Jh. v. Chr., ist eines der faszinierendsten Ereignisse in der Geschichte des Ostmittelmeerraums. Aus kulturgeschichtlicher Sicht ist es ein Wendepunkt, an welchem die Kluft zwischen dem Zusammenbruch der spätbronzezeitlichen Zvilisationen und dem Beginn der Ära der Nationalbewegungen überbrückt wird.

Eine Inschrift aus dem achten Regierungsjahr von Ramses III. in Medinet Habu (ca. 1175 v. Chr.) zeichnet ein dramatisches Bild der Ankunft der fremden Eroberer, die von "Inseln" (offenbar im ägäischen Raum) stammen und auf ihrem Weg durch Anatolien und Syrien in Richtung Ägypten eine Spur der Zerstörung hinter sich ließen. [...]

Während der ägyptische Bericht nicht als unparteiisches und unmittelbares Dokument akzeptiert werden sollte, haben Ausgrabungen in West- und Südanatolien (z.B. Bademgedigi Tepe und Tarsus), Zypern (z.B. Enkomi und Maa Palaeokastro), Syrien (z.B. Ras Ibn Hani) und Israel (z.B. Aschdod, Askalon und Ekron) einen dramatischen Anstieg in der Menge der lokal entstandenen ägäisch geprägten materiellen Kultur zu Beginn des 12. Jh. v. Chr. aufgedeckt.

Die Präsenz ägäischer Einwanderer kann aus dem Auftauchen ägäischer häuslicher Verhaltensmuster geschlossen werden: Essen wurde in Kochtöpfen ägäischer Art gekocht, Wein in Krateren mykenischen Stils gemischt und aus Skyphoi (schüsselartigen Gefäßen) getrunken. Auch die Textilherstellung änderte sich mit der Einführung des Webgewichts ohne Öse zum Aufhängen. Sogar die Wohnarchitektur wandelte sich, und Häuser in Zypern und Israel wurden mit rechteckigen Herdstellen ausgestattet - ein gemeinsamer Zug traditionller ägäischer Architektur der mykenischen Nachpalastzeit (Späthelladisch IIIC). Diese neuen ägäischen Merkmale gingen aber immer Hand in Hand mit dem Fortbestand der jeweils lokalen materiellen Kultur. Nur selten erscheinen sie in der unmittelbaren Folge der Zerstörung eines Ortes der Einheimischen.

Daher ist es wahrscheinlich, dass die ägäische Ansiedlung zumeist nicht gewaltsam verlief, wie von Ramses III. beschrieben, sondern dass sie hauptsächlich durch friedliche Koexistenz mit der lokalen Bevölkerung des Ostmittelmeerraums gekennzeichnet war.

Der genaue Grund für den Aufbruch einer beträchtlichen Zahl an Bewohnern der ägäischen Welt zur Kolonisierung des Ostens wird möglicherweise für immer im Dunkeln liegen. Möglich ist, dass innere Rivalität und Streit in der nachpalastzeitlichen Gesellschaft kulturelle Mobilität ermöglichte und Ansporn für Einzelne wie auch Gruppen bedeutete, ihr Glück auswärts zu versuchen. Die Ost- und Südbewegung wurde zweifellos durch den Untergang des Hethiterreichs und seiner Vasallenstaaten entlang der anatolischen und syrischen Küste kurt nach 1200 v. Chr, bedeutend vereinfacht.

Rückblickend stellt sich das Phänomen "Seevölker" als Erscheinung des unmittelbaren Beginns der Dark Ages Griechenlands dar und es beleuchtet die frühesten Anfänge der Wiederherstellung gesellschaftlicher Strukturen nach dem Ende der mykenischen Paläste. [...]

(Assaf Ysur-Landau, Die Seevölker, in: Zeit der Helden. Die "dunklen Jahrhunderte" Griechenlands 1200-700 v. Chr, Ausstellungskatalog, Karlsruhe 2008, S. 56 f.)

Für Ysur-Landau ist also auch der Zusammenbruch der spätbronzezeitlichen Zivilisationen im östlichen Mittelmeerraum die Ursache für den Aufbruch der Seevölker. Gemeint ist damit vor allem die Implosion der mykenischen Staatenwelt und der Zusammenbruch des Hethiterreichs. Ob zusätzlich wandernde Gruppen aus dem Norden des Balkans (Illyrer?, Thraker?) einen Dominoeffekt auslösten, ist denkbar.
Alle Beiträge dieses Benutzers finden
Diese Nachricht in einer Antwort zitieren
Antwort schreiben 


Nachrichten in diesem Thema
Phryger = Seevölker in Anatolien? - WDPG - 26.02.2013, 19:43
RE: Phryger = Seevölker in Anatolien? - WDPG - 22.03.2013, 23:15
RE: Phryger = Seevölker in Anatolien? - WDPG - 30.04.2013, 22:00
RE: Phryger = Seevölker in Anatolien? - WDPG - 30.04.2013, 21:54
RE: Phryger = Seevölker in Anatolien? - WDPG - 30.04.2013, 21:40
RE: Phryger = Seevölker in Anatolien? - WDPG - 02.05.2013, 11:40
RE: Phryger = Seevölker in Anatolien? - WDPG - 04.04.2013, 11:33
RE: Phryger = Seevölker in Anatolien? - WDPG - 02.05.2013, 13:28
RE: Phryger = Seevölker in Anatolien? - WDPG - 03.05.2013, 08:17
Reitervolk aus Steppe als Auslöser? - WDPG - 07.03.2014, 13:54
RE: Phryger = Seevölker in Anatolien? - WDPG - 11.03.2014, 22:21
RE: Phryger = Seevölker in Anatolien? - Dietrich - 08.03.2016 16:17

Gehe zu:


Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste

Kontakt    |     Startseite    |     Nach oben    |     Zum Inhalt    |     SiteMap    |     RSS-Feeds