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Daidalos und Ikaros
21.08.2016, 14:00
Beitrag: #1
Daidalos und Ikaros
Daidalos und Ikaros

Hier noch eine schöne Sage aus der griechischen Antike:

Auch Daidalos (Daedalus) aus Athen war ein Erechthide, ein Sohn des Metion, ein Urenkel des Erechtheus. Er war der kunstreichste Mann seiner Zeit, Baumeister, Bildhauer und Arbeiter in Stein. In den verschiedensten Gegenden der Welt wurden Werke seiner Kunst bewundert, und von seinen Bildsäulen sagte man, sie leben, gehen und sehen und seien für kein Bild, sondern für ein beseeltes Geschöpf zu halten. Denn während an den Bildsäulen der früheren Meister die Augen geschlossen waren, und die Hände, von den Seiten des Körpers nicht getrennt, schlaff herunter hingen, war er der erste, der seinen Bildern offene Augen gab, sie die Hände ausstrecken und auf schreitenden Füßen stehen ließ. Aber so kunstreich Daidalos war, so eitel und eifersüchtig war er auch auf seine Kunst, und diese Untugend verführte ihn zum Verbrechen und trieb ihn ins Elend. Er hatte einen Schwestersohn, namens Talos, den er in seinen eigenen Künsten unterrichtete, und der noch herrlichere Anlagen zeigte als sein Oheim und Meister. Noch als Knabe hatte Talos die Töpferscheibe erfunden; den Kinnbacken einer Schlange, auf den er irgendwo gestoßen, gebrauchte er als Säge und durchschnitt mit den gezackten Zähnen ein kleines Brettchen, dann ahmte er dieses Werkzeug in Eisen nach, in dessen Schärfe er eine Reihe fortlaufender Zähne einschnitt, und wurde so der gepriesene Erfinder der Säge. Ebenso erfand er das Drechseleisen, indem er zuerst zwei eiserne Arme verband, von welchen der eine stille stand, während der andere sich drehte. Auch andere künstliche Werkzeuge ersann er, alles ohne die Hilfe seines Lehrers, und erwarb sich damit hohen Ruhm. Daidalos fing an zu befürchten, der Name des Schülers möchte größer werden als der des Meisters, der Neid übermannte ihn, und er brachte den Knaben hinterlistig um, indem er ihn von Athenes Burg herabstürzte. Während Daidalos mit seinem Begräbnisse beschäftigt war, wurde er überrascht; er gab vor, eine Schlange zu verscharren. Dennoch wurde er vor dem Gerichte des Areopags wegen eines Mordes angeklagt und schuldig befunden. Er entwich nun und irrte anfangs flüchtig in Attika umher, bis er weiter nach der Insel Kreta floh. Hier fand er bei dem König Minos eine Freistätte, ward dessen Freund und als berühmter Künstler hoch angesehen. Er wurde von ihm ausgewählt, um dem Minotauros, einem Ungeheuer von abscheulicher Abkunft, der ein Doppelwesen war, das vom Kopfe bis an die Schultern die Gestalt eines Stieres hatte, im übrigen aber einem Menschen glich, einen Aufenthalt zu schaffen, wo das Ungetüm den Augen der Menschen ganz entrückt würde. Der erfindungsreiche Geist des Daidalos erbaute zu dem Ende das Labyrinth, ein Gebäude voll gewundener Krümmungen, welche Augen und Füße des Betretenden verwirrten. Die unzähligen Gänge schlangen sich ineinander wie der verworrene Lauf des geschlängelten phrygischen Flusses Mäander, der in zweifelndem Gange bald vorwärts, bald zurück fließt und oft seinen eigenen Wellen entgegenkommt. Als der Bau vollendet war und Daidalos ihn durchmusterte, fand sich der Erfinder selbst mit Mühe zur Schwelle zurück, ein so trügerisches Irrsal hatte er gegründet. Im Innersten dieses Labyrinthes wurde der Minotauros gehegt, und seine Speise waren sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen, die, vermöge alter Zinsbarkeit, alle neun Jahre von Athen dem Könige Kretas zugesandt werden mußten.

Indessen wurde dem Daidalos die lange Verbannung aus der geliebten Heimat doch allmählich zur Last, und es quälte ihn, bei einem tyrannischen und selbst gegen seinen Freund misstrauischen Könige sein ganzes Leben auf einem vom Meere rings umschlossenen Eilande zubringen zu sollen. Sein erfindender Geist sann auf Rettung. Nachdem er lange gebrütet, rief er endlich ganz freudig aus: "Die Rettung ist gefunden; mag mich Minos immerhin von Land und Wasser aussperren, die Luft bleibt mir doch offen; soviel Minos besitzt, über sie hat er keine Herrschergewalt. Durch die Luft will ich davongehen!" Gesagt, getan. Daidalos überwältigte mit seinem Erfindungsgeiste die Natur. Er fing an, Vogelfedern von verschiedener Größe so in Ordnung zu legen, dass er mit der kleinsten begann und zu der kürzeren Feder stets eine längere fügte, so dass man glauben konnte, sie seien von selbst ansteigend gewachsen. Diese Federn verknüpfte er in der Mitte mit Fäden aus Lein, unten mit Wachs. Die so vereinigten beugte er mit kaum merklicher Krümmung, so dass sie ganz das Ansehen von Flügeln bekamen. Daidalos hatte einen Knaben namens Ikaros. Dieser stand neben ihm und mischte seine kindischen Hände neugierig unter die künstliche Arbeit des Vaters; bald griff er nach dem Gefieder, dessen Flaum von dem Luftzug bewegt wurde, bald knetete er das gelbe Wachs, dessen der Künstler sich bediente, mit Daumen und Zeigefinger. Der Vater ließ es sorglos geschehen und lächelte zu den unbeholfenen Bemühungen seines Kindes. Nachdem er die letzte Hand an seine Arbeit gelegt hatte, passte sich Daidalos selbst die Flügel an den Leib, setzte sich mit ihnen ins Gleichgewicht und schwebte leicht wie ein Vogel empor in die Lüfte. Dann, nachdem er sich wieder zu Boden gesenkt, belehrte er auch seinen jungen Sohn Ikaros, für den ein kleineres Flügelpaar gefertigt und bereit lag. "Flieg immer, lieber Sohn", sprach er, "auf der Mittelstraße, damit nicht, wenn du den Flug zu sehr nach unten senktest, die Fittiche ans Meerwasser streifen und von Feuchtigkeit beschwert dich in die Tiefe der Wogen hinabziehen, oder, wenn du dich zu hoch in die Luftregion hinauf schwingst, dein Gefieder den Sonnenstrahlen zu nahe kommt und plötzlich Feuer fange. Zwischen Wasser und Sonne fliege dahin, immer nur meinem Pfade durch die Luft folgend".

Unter solchen Ermahnungen knüpfte Daidalos auch dem Sohne das Flügelpaar an die Schultern, doch zitterte die Hand des Greises, während er es tat und eine bange Träne tropfte ihm auf die Hand. Dann umarmte er den Knaben und gab ihm einen Kuss, der auch sein letzter sein sollte.

Jetzt erhoben sich beide mit ihren Flügeln. Der Vater flog voraus, sorgenvoll wie ein Vogel, der seine zarte Brut zum ersten mal aus dem Neste in die Luft führt. Doch schwang er besonnen und kunstvoll das Gefieder, damit der Sohn es ihm nachtun lernte, und blickte von Zeit zu Zeit rückwärts, um zu sehen, wie es diesem gelänge. Anfangs ging es ganz gut. Bald war ihnen die Insel Melos zur Linken, bald Paros und Delos, die Eilande, vorüber geflogen. Noch mehrere Küsten sahen sie schwinden, als der Knabe Ikaros, durch den glücklichen Flug zuversichtlich gemacht, seinen väterlichen Führer verließ und in verwegenem Übermute mit seinem Flügelpaar einer höheren Zone zusteuerte. Aber die gedrohte Strafe blieb nicht aus. Die Nachbarschaft der Sonne erweichte mit allzu kräftigen Strahlen das Wachs, das die Fittiche zusammenhielt, und ehe es Ikaros nur bemerkte, waren die Flügel aufgelöst und zu beiden Seiten den Schultern gesunken. Noch ruderte der unglückliche Jüngling und schwang seine nackten Arme; aber er bekam keine Luft zu fassen, und plötzlich stürzte er in die Tiefe. Er hatte den Namen seines Vaters als Hilferuf auf den Lippen; doch ehe er ihn aussprechen konnte, hatte ihn die blaue Meeresflut verschlungen. Das alles war so schnell geschehen, dass Daidalos, hinter sich nach seinem Sohne, wie er von Zeit zu Zeit zu tun gewohnt war, blickend, nichts mehr von ihm gewahr wurde. "Ikaros, Ikaros!" rief er trostlos durch den leeren Luftraum. "Wo, in welchem Bezirke der Luft soll ich dich suchen?"
Endlich sandte er die ängstlich forschenden Blicke nach der Tiefe. Da sah er im Wasser die Federn schwimmen. Nun senkte er seinen Flug und ging, die Flügel abgelegt, ohne Trost am Ufer hin und her, wo bald die Meereswellen den Leichnam seines unglückseligen Kindes ans Gestade spülten. Jetzt war der ermordete Talos gerächt. Der verzweifelte Vater sorgte für das Begräbnis des Sohnes. Es war eine Insel, wo er sich niedergelassen, und wo der Leichnam ans Ufer geschwemmt worden war. Zum ewigen Gedächtnis an das jammervolle Ereignis erhielt das Eiland den Namen Ikaria.

Als Daidalos seinen Sohn begraben hatte, fuhr er von dieser Insel weiter nach der großen Insel Sizilien. Hier herrschte der König Kokalos. Wie einst bei Minos auf Kreta fand er bei ihm gastliche Aufnahme, und seine Kunst setzte die Einwohner in Erstaunen. Noch lange zeigte man da einen künstlichen See, den er gegraben, und aus dem ein breiter Fluß sich in das benachbarte Meer ergoß; auf den steilsten Felsen, der nicht zu erstürmen war, und wo kaum ein paar Bäume Platz zu haben schienen, setzte er eine feste Stadt und führte zu ihr einen so engen und künstlich gewundenen Weg empor, daß drei oder vier Männer hinreichten, die Feste zu verteidigen. Diese unbezwingliche Burg wählte dann der König Kokalos zur Aufbewahrung seiner Schätze. Das dritte Werk des Daidalos auf der Insel Sizilien war eine tiefe Höhle. Hier fing er den Dampf unterirdischen Feuers so geschickt auf, dass der Aufenthalt in einer Grotte, die sonst feucht zu sein pflegte, so angenehm war wie in einem gelinde geheizten Zimmer und der Körper allmählich in einen wohltätigen Schweiß kam, ohne dabei von der Hitze belästigt zu werden. Auch den Aphroditetempel auf dem Vorgebirge Eryx erweiterte er und weihte der Göttin eine goldene Honigzelle, die mit der größten Kunst ausgearbeitet war und einer wirklichen Honigwabe täuschend ähnlich sah.

Nun erfuhr aber König Minos, dessen Insel der Baumeister heimlich verlassen hatte, dass Daidalos nach Sizilien geflüchtet sei, und fasste den Entschluss, ihn mit einem gewaltigen Kriegsheere zu verfolgen. Er rüstete eine ansehnliche Flotte aus und fuhr damit von Kreta nach Agrigent. Hier schiffte er seine Landtruppen aus und schickte Botschafter an den König Kokalos, welche die Auslieferung des Flüchtlings verlangen sollten.
Aber Kokalos war über den Einfall des fremden Tyrannen entrüstet und sann auf Mittel und Wege, ihn zu verderben. Er stellte sich an, als ginge er in die Absichten des Kreters ganz ein, versprach ihm, in allem zu willfahren und lud ihn zu dem Ende zu einer Zusammenkunft ein. Minos kam und wurde mit großer Gastfreundschaft von Kokalos aufgenommen. Ein warmes Bad sollte ihn von der Ermüdung des Weges heilen. Als er aber in der Wanne saß, ließ Kokalos diese so lange heizen, bis Minos in dem siedenden Wasser erstickte. Die Leiche überließ der König von Sizilien den Kretern, die mit ihm gekommen waren, unter dem Vorgeben, der König sei im Bade ausgeglitten und in das heiße Wasser gefallen.
Hierauf wurde Minos von seinen Kriegern mit großer Pracht bei Agrigent bestattet und über seinem Grabmal ein offener Aphroditetempel erbaut. Daidalos blieb bei dem König Kokalos in ununterbrochener Gunst; er zog viele und berühmte Künstler heran und wurde der Gründer seiner Kunst auf Sizilien. Glücklich aber war er seit dem Sturze seines Sohnes Ikaros nicht mehr, und während er dem Lande, das ihm eine Zuflucht gewährt hatte, ein heiteres und lachendes Ansehen durch die Werke seiner Hand verlieh, durchlebte er selbst ein kummervolles und trübsinniges Alter. Er starb auf der Insel Sizilien und wurde dort begraben.

Einem Haus eine Bibliothek hinzuzufügen heißt, dem Haus eine Seele zu geben.

Marcus Tullius Cicero
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22.08.2016, 08:02
Beitrag: #2
RE: Daidalos und Ikaros
Nun hat Daidalos auch die hölzerne Kuh gebaut, in deren Innern sich Pasiphae, die Frau des kretischen Königs Minos, versteckt hatte, um sich von Poseidonds Stier begatten zu lassen. Sie gebar darauf den Minotaurus. Die Griechen hatten - zum Mindesten mythologisch - wirklich nichts aus gelassen.
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22.08.2016, 10:16
Beitrag: #3
RE: Daidalos und Ikaros
ja, Aguyar... Stimmt! Das hatte ich noch vergessen zu erwähnen. Danke dafür.

Einem Haus eine Bibliothek hinzuzufügen heißt, dem Haus eine Seele zu geben.

Marcus Tullius Cicero
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26.08.2016, 16:49
Beitrag: #4
RE: Daidalos und Ikaros
Auch hier wieder zeigt sich, dass der spätere "groß-griechische" Kulturraum offenbar - zumindest in der Sage - schon in der Bronzezeit eng miteinander verflochten war. Dädalos kann einfach von Griechenland nach Kreta und von da nach Sizilien umherziehen, ohne auf fremde Völker zu stoße....Wink
Natürlich kann es sein, dass z.B. der "sizilische" Teil der Sage später dazu kam, als Sizilien tatsächlich schon teilweise gräzisiert war. Da aber schon die Mykener Handelsstützpunkte in Italien anlegten, waren sie sicher auch schon in Sizilien...Wink
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