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Der Untergang von Sprachen
02.07.2016, 21:00
Beitrag: #90
RE: Der Untergang von Sprachen
(02.07.2016 12:13)Dietrich schrieb:  Die Abwanderung der Bevölkerung hat sich über ein Jahrhundert hingezogen. Nach der weiter oben angeführten Aussage antiker Schriftsteller saßen die Helvetier in SW-Deutschland und haben sich aufgrund der Kimbern- und Teutonenzüge sowie der Feldzüge Caesars ins Schweizer Mittelland zurückgezogen. Andere Gruppen sind vielleicht ins benachbarte Gallien abgezogen oder haben sich in alle Winde zersreut. Das wird man heute nicht mehr exakt belegen können.

Sicher aber ist: Fundleere heißt wenig Menschen.

Das Problem dabei ist, dass das Schweizer Mittelland um 100 v. Chr. kein menschenleeres Gebiet war, welches die Helvetier aufgrund dieser Tatsache als Rückzugsort hätten gebrauchen können. Das Mittelland war damals und auch schon früher ein dicht besiedeltes keltisches Siedlungsland, jedenfalls lässt die Funddichte darauf schliessen. Nicht von ungefähr stammt der Begriff der "Latène-Kultur" von einer Fundstelle am Neuenburger-See.

Wenn jetzt die Helvetier erst im Zusammenhang mit dem Zug der Kimbern und Teutonen im Mittelland ansässig geworden sein sollen, käme man zum Mindesten in die Verlegenheit, die hier bereits wohnhaften Kelten nicht mit einem Stammesnamen oder einer Ethniebezeichnung ansprechen zu können. Gut, das wäre jetzt nicht so schlimm. Offen bleibt hingegen die Frage, wieso sie sich hier hätten zurückziehen müssen - in ein bereits keltisch besetztes Siedlungsgebiet wohlverstanden ! Schliesslich haben sie - jedenfalls der Teilstamm der Tiguriner - die Kimbern und Teutonen begleitet und mit ihnen bei Agen 107 die Römer besiegt. Sie hatten die Kimbern und Teutonen begleitet, waren also nicht vor ihnen geflohen. Und auch vor den Römern hätten sie sich nicht in neues Land zurückzuziehen brauchen, sie gehörten ja zu den Siegern.

Die aus der hist. Überlieferung der römischen Geschichtsschreibung (nam. Tacitus) entnommenen Lehrmeinung, die Helvetier hätten sich im 2. Jahrhundert aus dem Mittelrheingebiet kommend, im Mittelland niedergelsassen, lässt sich auch im ärchalogischen Befund nicht nachvollziehen. Das muss zugegenbermassen nichts heissen und könnte auch lediglich darauf hinweisen, dass die helvetischen Einwanderer der im Mittelland ansässigen Keltenstämme ohnehin kulturell nahe verwandt gewesen seien.

Was sich mit Sicherheit widerlegen lässt, ist aber die These, die Helvetier hätten sich aufgrund der Feldzüge von Cäsar ins Schweizer Mittelland zurückgezogen. Denn von dort waren sie aufgebrochen, als sie 58 bei Bibracte von Cäsar geschlagen worden. Nach der Niederlage "zogen sie sich nicht dorthin zurück", sondern wurden von Cäsar "zurückgeschickt", der kurz darauf Helvetien dem Imperium einverleibte. Das kann beim ihm selbst nachgelesen werden.

Überhaupt weiss man von den Helvetieren und ihren Protagonisten hautpsächlich aus Cäsars "Gallischem Krieg" selbst. Gemäss ihm hatte der helvetische Teilstamm der Tiguriner die Kimbern und Teutonen auf ihrem Zug begleitet. 107 schlugen die Kimbern, Teutonen, Tougener und Tiguriner die Armee von Cassius bei Agen. Der Anführer des gemischten keltisch-germanischen Heeres war der Tiguriner Divico.

Um 61 v. Chr. - so im "bello Gallico" - schwang sich der Helvetier Orgetorix zu einem Anführer der helvetischen Stämme und überredete diese, nach Galllien (und zwar von Helvetien und nicht vom Rhein/Main Gebiet aus !) auszuwandern. Dazu nahm er Kontakt zu den Eliten der Nachbarvölkern, den Sequanern und Haedurer, entsprechende Kontakte auf. In der Folge kam es jedoch zu Machtkämpfen - auf die ich jetzt nicht im Detail eingehe - und Orgetorix verlor aus nicht ganz geklärten Umständen sein Leben (Mord, Selbstmord ?). Am "Auszug nach Gallien" wurde jedoch festgehalten, und als Anführer wählte man den alten Tiguriner Divico (!), der mit den Helvetiern auch promt auszog und 58 bei Bibracte von Cäsar gestoppt und geschlagen wurde.

Cäsar beschreibt die Tiguriner als einen von vier Stämme der Helvetier, welche nach Gallien aufgebrochen seien. Er erwähnt auch die Episode, wonach der mit ihm verhandelnde Divico für sich in Anspruch nahm, die Römer bereits einmal geschlagen zu haben (107 bei Agen). Er erwähnt aber nichts davon, dass die Helvetier oder die Tiguriner erst im Zusammenhang mit dem Zug der Kimbern/Teutonen in Helvetien eingewandert seien.
Allerdings erscheint es etwas fragwürdig, wenn Divico ein halbes Jahrhundert nach seinem Sieg über die Römer seinen Auftritt bei Bibracte im "Gallischen Krieg" hat. Ob dieser, wenn überhaupt noch am Leben, noch köperlich in entspr. Verfassung war, erscheint nicht gerade als wahrscheinlich. Das riecht schon etwas nach Revanche-Propaganda.

Nach wie vor würde sich die Frage aufdrängen, wer die Kelten im Mittelland vor dem Teutonenzug waren, wenn nicht Helvetier ?
Und auch was Süddeutschland, insbesondere Baden anbelangt, teile ich die Skepsis des Sueben. Baden war jedenfalls bis kurz vor der Zeitenwende keltisch besiedelt und hatte mit dem "Dreieckland" zwischen den Belchen sogar ein kulturelles Zentrum. Die Annahme, das Südwestdeutschland bis zur Eroberung und Erschliessung durch die Römer weitgehend unbesiedelt war und die keltische Bevölkerung ab 50 v. Chr. verdrängt wurde, kann ich nicht glauben.

Die oberrheinische Tiefebene als ein ehemals keltisches Kulturzentrum, ein klimatisch begünstigter Landstrich, in welchem man bis um 70 v. Chr jede Menge Funde machte. Und so eine Region soll plötzlich zu einer Wüstenei geworden sein ? Die Gegend wurde doch mit erheblichem Aufwand erobert - und das bei einer Einöde ?

Jendenfalls hat man breits in den 90er Jahren bei Ausgrabungen der Viereckschanze von Mengen-Ennetach Funde gemacht, die man in die zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. datieren zu dürfen glaubt. So ganz ohne keltische Funde in Baden-Württemberg für die Spät-Latène-Zeit ist man offenbar doch nicht.

https://journals.ub.uni-heidelberg.de/in...12771/6604

PS:
Ich weiss jetzt allerdings nicht, ob und inwieweit der obige Bericht überholt ist. Ist eben doch eine Weile her - und mein historisches Interesse beschränkt sich eigentlich im Wesentlichen auf Mittelalter und Renaissance Rolleyes
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