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Vertreibung in der Geschichte
28.09.2014, 12:13
Beitrag: #27
RE: [geteilt] Presseschau "Slowenien wird deutsch"
(26.09.2014 14:23)liberace schrieb:  Gemessen an den rund 12 Mio. deutschen Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten des DR sind das eher Peanuts. Besonders unrühmlich taten sich die Tschechen hervor. Die Tschechen waren das einzige von den Nazis besetzte Land, das keine eigene Widerstandsbewegung besaß wie z. B. die Resistance in Frankreich. Um dieses miese Image bei den Alliierten zu ändern, wurde das Attentat auf Heydrich gemacht. Aber auch danach lebten die Tschechen unter deutscher Besatzung relativ unangetastet, die Industriearbeiter erhielten Höchstlöhne. Nach der Kapitulation des DR quälten und massakrierten die Tschechen die wehrlosen Sudetendeutschen, ca. 270.000 von ihnen kamen so um. Erste starke Proteste der Amerikaner führten danach zu einer geordneten Vertreibung unter russischer Oberherrschaft. Verbrechen bleibe Verbrechen, egal wer sie begangen hat.

liberaces Statement über die Tschechen ist eine Ansammlung alter Vorurteile, bis heute verbreitet durch die Teile der sudetendeutschen Landsmannschaft und ihnen nahestehender Kreise. Solche Vorurteile sollten in einem seriösen Forum nicht ohne Widerspruch stehen gelassen werden.

Ich mag hier eigentlich nicht mehr schreiben, um Konflikte zu vermeiden, mache hier aber eine Ausnahme, da dieses Forum fachlich gut ist, aber tschechische Geschichte weniger bekannt ist. Chris hat einiges richtig gestellt, ich will da weiteres ergänzen.

Da ist einmal die alte Zahl von 270 000 toten Sudetendeutschen durch die Vertreibung - eine Anzahl, rein aus Statistiken aus verschiedener Volkszählungen (DR 1939, Tschechoslowakei 1950, BRD 1950, Schätzungen aus der DDR und amtliche Angaben aus Österreich) generiert, die ausser acht lässt, dass es Einwohner gab, die ihre Nationalitäten gewechselt haben. In Tschechien hätten es bis zu 600 000 sein können. Wenn also irgendwo eine Viertelmillion Deutsche in der Tschechoslowakei in den Statistiken „verschwunden“ sind, kann es sein, dass viele dann nach dem Krieg sich zur tschechischen Nationalität bekannt haben – aus nachvollziehbaren Gründen, und nachdem viele von ihnen 1939 sich zu Deutschen erklärt hatten.

Die deutsch-tschechische Historikerkommission hat in ihrer Erklärung von 1997 die MAXIMALzahl von 30 000 erwähnt - einschliesslich Selbstmorde. Die Rote Armee hat sich dabei auch an Ausschreitungen beteiligt. Die Historikerkommission mahnte an, nicht mehr die Zahl von einer viertel Million toten zu erwähnen.
http://de.wikipedia.org/wiki/Vertreibung...pferzahlen

Natürlich gab es in der Tschechoslowakei eine Widerstandsbewegung - ohne die hätte man ja das Heydrich Attentat nicht durchführen können. Wovon hätten die Attentäter denn gelebt, das fast halbe Jahr zwischen Absetzung und Attentat? Ausserdem waren es auch Tschechen, die von Grossbritanien aus operierten, wohin sie geflohen waren. Jeder Widerstandskämpfer setzte das eigene Leben wie dasjenige der Familienangehörigen aufs Spiel. Nach dem Heydrich Attentat wurden ganze Familien von Widerstandskämpfern erschossen, was auch so bekannt gegeben wurde.

https://www.youtube.com/watch?v=VZsV6Y1oGfM (ab 1.50 Benešs Rede zur Massaker von Lidice in England)

Der Vergleich mit der Résistance in Frankreich hinkt in mancher Hinsicht, denn in Frankreich war die Besatzung weit weniger intensiv, hatte duch die Nähe zu GB und der langen Seeküste grosse logistische Vorteile und war bis Ende 1942 zum Teil unbesetzt. Waffen und sonstige Unterstützung konnten den Maquis viel leichter erreichen als das viel weiter weg entfernte Binnenland, das sich auch von der Landschaft (kein Gebirge, keine weiten Wälder) her sehr schelcht für Partisanenkampf eignete. Aber auch so gab es Widerstand:

http://de.wikipedia.org/wiki/Tschechoslo...%80%931945

Nicht vergessen sollte man, dass die Tschechen nach den Polen das bedeutendste Kontingent an Nicht-Commonwealth Piloten in der Luftschlacht um England stellten, mehr als Franzosen. Der Kampfeswille war da, aber ohne Waffen kämpft es sich schlecht.

http://en.wikipedia.org/wiki/Non-British...of_Britain

Das Argument der Höchstlöhne ist ein weiteres sudetendeutsches Landmannschafts Argument, das absoluter Hohn ist. Es galt höchstens für Rüstungsarbeiter, aber das Geld in einem Krieg ist bei Rationierung ohnehin nicht viel Wert, nach dem Krieg war es durch die Währungsreform wertlos geworden.
Heydrich liess gleich nach seinen Machtantritt im Herbst 1941 die Rationen für Rüstungsarbeiter erhöhen, bei gleichzeitiger Steigerung der Repression hatte dies den Rückgang der Sabotage zur Folge, die zuvor nach dem Überfall auf die Sowjetunion rasant angestiegen war.

"Relativ unangetastet lebten die Tschechen" - nach Quellen bis zu 343 000 Toten ist also relativ unangetastet. Dagegen wären ja dann 30 000 wirklich "Peanuts".

http://www.hagalil.com/czech/dachau/dachau-1.htm (Opferzahlen ganz unten, Artikel aber auch sonst lesenswert über Widerstand und Repression).

Dass die tschechischen Hochschulen von 1939-1945 geschlossen waren, weil die Tschechen als Untermenschen keine solche Bildung mehr benötigen würden, gehört offenbar auch in die Kategorie relativ ungeschoren.

http://de.wikipedia.org/wiki/Sonderaktion_Prag

Man kann die Verbrechen, die von tschechischer Seite verübt wurden, sicher verurteilen, das haben schon Tschechen damals getan, wie Zdeněk Fierlinger, Frantíšek Peroutka, Pavel Tigrid, mein Vater (1922-2004) und vor allem der grossartige Přemysl Pitter, Träger des Bundesverdienstkreuzes und Inhaber eine Baumes in Jad Waschem, sowie 1989 auch Václav Havel.

http://de.wikipedia.org/wiki/P%C5%99emysl_Pitter

Man sollte aber deshalb nicht die tschechischen Widerstandskämpfer im In- wie Ausland vergessen ebenso wenig den Schrecken der Nazi Besatzung von Böhmen und Mähren verniedlichen, nur weil es in Polen oder der Sowjetunion noch viel schrecklicher war. Aber auch diejenigen nicht verachten, die einfach nur überleben wollten. Aber unter dem Schrecken leben mussten, "erschossen zu werden mitsamt seiner Familie", selbst wenn sie zu Unrecht denunziert worden sind.

Ich sage ja auch nicht, dass alle Deutschen Nazis waren, es keinen Widerstand gab und Stauffenberg sowieso nur Hitler töten wollte, um die drohende Niederlage abzuwenden. Und Martin Niemöller, Dietrich Bonhoeffer, Geschwister Scholl, aber auch die Gebrüder Mann und Wenzel Jaksch kenne ich auch, wie mir bekannt ist, dass es noch viele namenlose Helden gab, auch Sudetendeutsche, wie etwa diese Dame

http://www.ceskatelevize.cz/porady/10204...ute-osudy/

die im tschechischen Fernsehen als "unbekannte Heldin" vorgestellt wurde und nach dem Krieg als Antifaschistin anerkannt wurde, nicht vertrieben wurde, wie auch hier

http://www.ackermann-gemeinde.de/aktuell...?tx_ttnews

und hier

http://derstandard.at/2153535

vergessen wir Tschechen nicht, dass es unter den Sudetendeutschen Widerstand und tapfere Menschen gab.
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Vertreibung in der Geschichte - Suebe - 16.10.2012, 20:14
RE: [geteilt] Presseschau "Slowenien wird deutsch" - Marek1964 - 28.09.2014 12:13

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