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Biographien ungeordnet, wie sie geschrieben werden .
20.08.2016, 15:17
Beitrag: #80
RE: Biographien ungeordnet, wie sie geschrieben werden .
Henry Schmidt – der Eichmann von Dresden

1912 bis 1945

Henry Schmidt wurde am 2. Oktober 1912 in Chemnitz als Sohn eines Tapezierers und einer Strumpfnäherin. Nach dem Schulbesuch von 1919 bis 1929 begann er eine kaufmännische Lehre in einem Baubetrieb, die er 1932 erfolgreich abschloss. Auf das nach dem Abschluss der Lehre geplante Architekturstudium musste Schmidt aufgrund der wirtschaftlichen Situation seiner Eltern verzichten. Schmidt gehörte zu den ersten 30 Mitgliedern der HJ in Chemnitz, 1930 trat er in den SA-Sturm 104 ein. Chef dieses SA-Sturms war der spätere SS-Standartenführer Friedrich Schlegel, von dem er nach 1933 gefördert wurde. Henry Schmidt wurde bereits 1930 Mitglied der NSDAP und 1933 erfolgte die Aufnahme in die SS sowie die Anwerbung für den Dienst in der Gestapo. Er wurde noch 1933 zum SS-Scharführer befördert und im Wach- und Meldedienst der Gestapo in Dresden eingesetzt. 1936 wurde Schmidt zum SS-Untersturmführer befördert, d.h. Schmidt war nun SS-Offizier und vom Mai bis Juni 1937 besuchte er die Führerschule der Sicherheitspolizei in Berlin-Charlottenburg. Im Oktober 1937 heiratete er die Kanzleiangestellte Gertrud Richter. 1940 wurde er zum SS-Sturmführer ernannt.

1940/41 besuchte Schmidt einen Kriminalassistenten-Anwärterlehrgang und einen Kriminalkommissarslehrgang an der Führerschule der Sicherheitspolizei. Beide Lehrgänge waren mit KZ-Besuchen in Sachsenhausen und Ravensbrück verbunden. Nach seiner Ausbildung wurde Schmidt von der Gestapo in Österreich und in Polen eingesetzt, ehe er auf eigenem Wunsch im Frühjahr 1942 zur Gestapo nach Dresden versetzt wurde. Dort übernahm er die Leitung des Referats IV B, d.h. er war in der Gestapoleitstelle Dresden für die „Endlösung der Judenfrage“ zuständig, deren Umsetzung er in direkter Absprache mit Adolf Eichmann umzusetzen hatte. In dieser Funktion war er nicht nur Schreibtischtäter, er schlug seine Gefangenen und er setzte sie psychischen Torturen aus.

Viktor Klemperer beschrieb in seinen Tagebüchern als einen Menschen, dessen Grausamkeiten man nicht vergessen darf. 1943 wurde Schmidt zum SS-Obersturmführer befördert. Er hat während seiner knapp dreijährigen Dresdner Zeit den Transport von 375 Menschen, darunter auch Kinder, nach Auschwitz organisiert. Von diesen 375 Verschleppten überlebten nur 27, von weiteren 39 ist nicht gesichert, ob sie überlebten oder sterben mussten, alle anderen Menschen sind in Auschwitz umgekommen.

1945

Nach der Befreiung der Auschwitzer Häftlinge am 27. Januar 1945 kamen die Transporte in die Vernichtungslager ins Stocken. Das lag auch daran, dass die ungarischen Pfeilkreuzler in Budapest übereifrig gegen die jüdische Bevölkerung wüteten. Eichmann entschied sich deswegen, statt von Wien aus, die Transporte vor Ort in Budapest zu organisieren. Schmidt hatte währenddessen ca. 100 bis 110 Menschen – die letzten Juden Dresdens - verhaftet, die am 16. Februar 1945 in ein Vernichtungslager deportiert werden sollten. Viktor Klemperer war einer von ihnen. Infolge der Zerstörung Dresdens durch englische und US-amerikanische Bomber in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 kam es nicht mehr zu der Deportation der Verhafteten in ein Vernichtungslager. Die genaue Anzahl ist bis heute nicht nachgewiesen, ebenso wie viele der ca. 100 bis 110 Gefangenen überlebt haben oder Opfer der Bomben wurden. Dass man die Opfer des Bombenkriegs in Dresden nur schätzen kann, liegt vor allem daran, dass aus der „Festung Breslau“ und Umgebung viele Menschen geflüchtet waren, die bis zum 13. Februar 1945 noch nicht in Dresden registriert worden. Andererseits wurden in der Bombennacht auch viele Amtsgebäude zerstört und somit viele Dokumente vernichtet. Nicht vergessen darf man, dass in den chaotischen Tagen nach dem Inferno SS und Gestapo belastendes Material in Größenordnungen vernichteten. Henry Schmidt soll jedenfalls am 14. Februar 1945 Akten, die seine Verantwortung und Schuld belegen könnten, vernichtet haben. Außerdem ließ er Pässe und Dokumente verschwinden, aus deren Inhalt er sich nach dem Krieg eine neue Identität zusammenstellte.

Von Februar bis Mai 1945 trieb Schmidt sein Unwesen als Anführer sogenannter „Werwölfe“ zuerst in der Dresdner Umgebung, dann in Altenberg im Erzgebirge. Hier setzte er sich wenige Tage vor Kriegsende in die Tschechoslowakei ab, wo er in Teplice seine Frau wieder traf. Beiden gelang es den unerfahrenen tschechischen Behörden weiszumachen, dass sie Sudetendeutsche sind, die neue Papiere für ihre Ausreise nach Deutschland brauchten. Diese Papiere wurden am 8. Mai 1945 ausgestellt und die Schmidts kehrten noch am gleichen Tag nach Chemnitz zurück, wo ihm eine alte Bekannte, die als Krankenschwester arbeitete, die SS-Tätowierung wegätzte. Gelebt haben die Schmidts im Haus einer Schwägerin. Nachdem Schmidt mitbekam, dass man sich nach ihm erkundigt hatte, wechselte er seinen Wohnsitz nach Oelsnitz (Erzgebirge), wo er vorerst bei anderen Verwandten seiner Ehefrau unterkam. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich in Baubetrieben, denen er seine tatsächlichen Abschlüsse als Maurer und Baukaufmann vorlegte, denen er aber auch einen Lebenslauf vorlegte, in dem er sich als Zivilangestellter der Organisation Todt auswies, der hauptsächlich in den nach 1945 polnisch gewordenen Gebieten arbeitete. Die angebliche Mitarbeit in der Organisation Todt reichte auch als Erklärung dafür aus, dass Schmidt während des Krieges nicht als Soldat diente.

Schmidts Leben in der DDR

Schmidt bewährte sich als fähiger Organisator, so dass ihn zuerst private, später volkseigene Betriebe mit dem Management der Arbeitsabläufe in Sand- und Kiesgruben beauftragten. Wegen dieser beruflichen Tätigkeit zog er dann nach Altenburg, wo er auch Mitglied einer Arbeiterwohnungsgenossenschaft (AWG) wurde und am 1. April 1963 deren Vorsitzender. Von einem nebenberuflich wirkenden AWG-Vorsitzenden wurde vor allem verlangt, Material zu beschaffen, Handwerker zu beauftragen, Aufbaustunden der Mitglieder zu organisieren usw., d.h. auch er musste ein gutes Gedächtnishaben und gut koordinieren können. Für seine Arbeit wurde Schmidt mehrmals ausgezeichnet, so wurde er auch Aktivist der sozialistischen Arbeit. Außerdem arbeitete er ehrenamtlich bei der Freiwilligen Feuerwehr und dem Deutschen Roten Kreuz. 1977 geriet Schmidt das erste Mal mit DDR-Behörden aneinander. Er wollte, dass seine Dienstjahre bei der Organisation Todt als versicherungspflichtige Arbeitszeit anerkannt werden. Der Beschwerde wurde nachgegeben und Schmidt erhielt pro Monat zusätzlich 81,50 Mark Rente
Seine beiden Kinder erzog er linientreu nach den Vorgaben der SED. Beide wussten bis zur Verhaftung ihres Vaters nichts von seiner wahren Vergangenheit bei der Dresdner Gestapo. Die angeblich besseren Entwicklungsmöglichkeiten seiner beiden Kinder in der DDR, gab Schmidt während seiner späteren Befragung an, wäre der Grund gewesen, dass er nicht in die Bundesrepublik übersiedeln wollte.

Verhaftung und Prozess 1986/87 und Tod 1996

Schließlich wurde Henry Schmidt am 9. April 1986 verhaftet. Möglich wurde die Verhaftung durch die Zusammenarbeit zwischen dem Generalstaatsanwalt der DDR, dem Senat von Berlin (West), polnischen Behörden und jüdischen Gemeinden. Bei der Auswertung von Akten des Volksgerichtshofs stieß man auf die Unterschrift eines Kriminalassistenten Schmidt, der 1941 in Oppeln (heute Opole) einen Lehrgang besuchte. Polnische Behörden fanden dann heraus, dass dieser Schmidt mit Vornamen Henry hieß, am 2. Oktober 1912 in Chemnitz geboren wurde und als SS-Obersturmführer am 1. September 1943 das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse verliehen bekam. Vergleiche mit Unterschriften auf Dokumenten des Dresdner Finanzamtes ergaben dann, dass der Kriminalassistent Schmidt identisch mit dem Dresdner Gestapo-Schmidt war. Diese neuen Erkenntnisse führten dazu, dass Schmidt in Altenburg enttarnt und verhaftet wurde.

Die Anklage gegen Schmidt wurde am 27. Juli 1987 verlesen, der Prozess fand zwischen dem 15. und 28. September 1987 statt. Da im Juli 1987 in Lyon der Prozess gegen Klaus Barbie – den „Schlächter von Lyon“ - stattfand, hatte auch dieser 2. Prozess des Jahres 1987 gegenüber einen ehemaligen Leiter einer Gestapo-Dienststelle – den „Eichmann von Dresden“ - eine breite internationale Öffentlichkeit. Die DDR-Juristen legten viel Wert auf einen korrekten Verlauf des Prozesses und verzichteten auf ideologische Phrasen. Dies hatte zur Folge, dass der Prozess nach 1990 weiterhin als rechtsmäßig galt. Henry Schmidt wurde durch das Bezirksgericht Dresden zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe und der Aberkennung der bürgerlichen Grundrechte verurteilt. Dies war die von der Staatsanwaltschaft geforderte Höchststrafe, da die Todesstrafe mit Wirkung vom 17. Juli 1987 abgeschafft wurde. Die Berufung gegen das Urteil wurde am 22. Dezember 1987 vom Obersten Gericht der DDR als unbegründet zurückgewiesen. Schmidts Anwälte begründeten ihre Berufung gegen das Urteil, dass er seine persönliche Schuld an den Verbrechen der Nazis eingestand. Das Oberste Gericht wies daraufhin, dass bei der Schwere seiner Schuld es keine Rolle spielt, ob der Angeklagte seine Schuld eingestand oder nicht. Henry Schmidt starb am 15. Mai 1996 in einem Pflegeheim in Schmölln (bei Altenburg), nachdem er am 21. März 1996 wegen der erforderlichen Behandlung einer Krebserkrankung für neun Monate aus der Haft entlassen wurde.

"Geschichte erleuchtet den Verstand, veredelt das Herz, spornt den Willen und lenkt ihn auf höhere Ziele." Cicero
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Xanthippe - Luki - 12.06.2012, 15:52
Etwas Bilder - Luki - 22.06.2012, 19:39
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Etwas Bilder - Luki - 22.06.2012, 21:31
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