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Henri Rochette
17.10.2012, 19:02
Beitrag: #1
Henri Rochette
Ich habe mich in letzter Zeit mit einer Person beschäftigt, die für wenige Jahre in aller Munde war und einen riesigen Skandal hervorrief („einer der größten Finanzskandale aller Zeiten“, eine „die Republik aufwühlende Angelegenheit“, so das „Liechtensteiner Volksblatt“ vom 17. 4. 1914), aber heute noch nicht einmal seinem Heimatland Frankreich einen Wikipediaartikel wert ist: Henri Rochette, einem Finanzschwindler des frühen 20. Jahrhundert, laut der New York Times vom 24. März 1908 sogar der „Napoleon der Schwindler“ („Napoleon of swindlers“).
Steins Kulturfahrplan? Fehlanzeige! Der 24-bändige Brockhaus? Fehlanzeige! Meine geschichtlichen Bücher? Fehlanzeige! Nur in einer Weltgeschichte aus John F. Kennedys Amtszeit habe ich einen Absatz gefunden. Deshalb habe ich stundenlang in uralten Zeitungsarchiven im Internet herumgesucht, wie zum Beispiel beim bereits zitierten „Liechtensteiner Volksboten“ Big Grin
Hier ist das Ergebnis. Ursprünglich wollte ich den Mann ja im Forum-Spiel zum Raten stellen, aber das wäre angesichts der Quellenlage doch etwas fies gewesen. Deshalb meine Ausarbeitungen auf diese Weise.

Wäre ich Antiquar, ich würde mich nur für altes Zeug interessieren. Ich aber bin Historiker, und daher liebe ich das Leben. (Marc Bloch)
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17.10.2012, 19:03
Beitrag: #2
RE: Henri Rochette
Über Henri Rochettes Herkunft, Kindheit und Jugend ist nicht viel (um nicht zu sagen nichts) bekannt. Er wurde ungefähr 1879 geboren. Zuerst war er Kellnerlehrling in einem Salon in Melun (einer Kleinstadt, die 50 Kilometer von Paris entfernt liegt). Als nächstes verkaufte er an einem Bahnhof kleine Produkte für die geschäftigen Reisenden. Zwischendurch arbeitete er bei einem Friseur. Welche Stationen er genau durchlief und in welcher Reihenfolge, ist ebenso unklar.
Doch dann zog es ihn in die Hauptstadt der Republik, wo er zuerst eine Handelsschule besuchte. Nach deren Abschluss schloss er sich dem Finanzschwindler Berger an. Aber dieser war trotz seines Könnens schlussendlich erfolglos und musste Bankrott gehen. Da nutze Rochette die Chance und kaufte das Unternehmen für lächerliche 5000 Franken. Um diese Summe bezahlen zu können, hatte er eine Stenotypistin geheiratet, die eine ausreichende Mitgift in die Ehe brachte.
In früheren Jahren hatte er eine Erbschaft (Geld und etwas Immobilienbesitz) Finanzleuten übertragen, die ihm versprochen hatten, es zu mehren. Doch es waren allesamt Betrüger gewesen, und das Geld war im Nu verflogen gewesen. Für ihn eine Katastrophe, denn seine gesamten Ersparnisse hatten sich in Luft aufgelöst. Doch eines hatte er aus dieser Pleite gelernt: Wenn man es richtig anstellt, kann man es mit etwas Sinn für gute Geschäfte schnell zum Erfolg bringen. Bei Berger hatte er das nötige Know-How erworben. Also begann er damit, Firmen zu „gründen“, die in Wirklichkeit nur heiße Luft waren:
Im Laufe der Jahre entstanden auf diese Weise 13 Aktiengesellschaften: Die erste war 1900 die „Heila-Glühstrumpffabrik“. Weitere folgten. Er stieg scheinbar in die verschiedensten Branchen ein und machte dabei immer mehr Umsatz: Beim Crèdit Minier waren es noch 500.000 Franken, bei den Lavina-Kohlegruben derer schon zwei Millionen, die Banque Franco-Espagnole war schlussendlich zehn mal so viel wert. Dabei wandte er die geschicktesten Tricks an: So nannte er eine Aktiengesellschaft „Rio-Tenerido-Mine“. Der Name wurde an der Börse immer wieder mit der berühmten „Rio-Tinto-Mine“ verwechselt, sodass auch dieses Geschäft blühte.
Die Pläne wurden immer waghalsiger, zumal aus jeder Unternehmung ein voller Erfolg wurde: Aus dem Nichts hatte er auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn 60.000.000 Franken in Umlauf gebracht, die sich solcher Beliebtheit erfreuten, dass sie schon bald mehr als drei Mal so viel – 200 Millionen Franken (!) wert waren. Sein größter Erfolg war jedoch eine Zeitung, deren Fokus auf dem Finanzwesen lag. Diese hatte eine richtige Redaktion und Angestellte, doch manipulierten diese die Texte so, dass alles zu einer einzigen Werbekampagne für Henri Rochette und seine Firmen wurde. Sie wurde in allen Provinzen Frankreichs mit Begeisterung gelesen, und brachte tausende Kleinbürger um ihr sauer erspartes. Fünf weitere Zeitungen waren ebenfalls von ihm beherrscht. Zudem konnte er mit seinen „Kontakten“ zu den höchsten politischen Persönlichkeiten des Landes prahlen.
Seine Sparbriefe erregten größtes Interesse bei der Unter- und Mittelschicht. Das Geld, das eingefordert wurde, stammte aus anderen Projekten. Die französische Bankenaufsicht viel ebenfalls voll auf seine gefälschten Bilanzen hinein. Seine Geschäfte konnten ungestört Filialen in 40 französischen Städten errichten. Doch es waren nicht nur Kleinbürger, Handwerker und Bauern, die so in den Ruin getrieben wurden: Auch hochgestellte Persönlichkeiten waren dabei – das war es ja, was den Umfang und die Bedeutung dieses Skandals ausmachte. Insgesamt investierten 40.000 Personen in die Projekte, denn bei einem solchen Reichtum an „florierenden Geschäften“ konnte da ja gar nichts falsch gemacht werden.
Angeblich soll er aber in Privatsachen ganz anders gewesen sein: Er führte eine vorbildliche Ehe mit seiner Frau, kaufte ihr eine Villa bei Biarritz und baute seinem Vater einen Alterswohnsitz. Er trank und rauchte nicht und ging selten in die Öffentlichkeit. Doch trotzdem beherrschte er sie wie kein anderer.
Rochettes letzte Schwindelgesellschaft war eine Fabrik, in der laut den offiziellen Angaben viele tausend Arbeiter sein sollten. Tatsächlich waren da nur ein paar Dutzend Heizer, die den Kessel immer neu befüllten und so die Schornsteine am Rauchen hielten. Die nichtsahnenden Aktionäre waren sich sicher, dass ihre Geschäfte blühten. Es gab nur einen Menschen, der nicht aufhörte ihn zu bekämpfen, den Unternehmer und Flugzeugfabrikanten Deperdussin, der ebenfalls ein Finanzgenie war. Als nächstes plante Rochette laut eigenen Aussagen, das Pariser Nahverkehrsnetz völlig umzukrempeln und es dem New Yorker U-Bahn-System anzugleichen. Diese Aufgabe hätte ihm sicher eine Milliarde (!) Franken verschafft. Zur Erinnerung: Er war gerade 29 Jahre alt!

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18.10.2012, 20:23
Beitrag: #3
RE: Henri Rochette
Doch, wie das Sprichwort sagt, kommt Hochmut vor dem Fall, und so musste auch Rochettes Stern – so hell er gestrahlt haben mag – eines Tages zum Sinken kommen. Vermutlich hat irgendjemand irgendetwas ausgeplaudert, jedenfalls erreichte 1908 den Polizeipräsidenten Lepine eine Nachricht, dass alle Aktionen des Rochette nur Humbug seien. Die Quelle muss eine ziemlich glaubwürdige gewesen sein, denn sie wurde ernst genommen. Seine Freunde wollten den Schwindler noch warnen, er solle sich in Sicherheit bringen, doch der Staat war schneller.
Am 23. März 1908 marschierte die Polizei in den Palast, in dem Rochette residierte und sechs Direktoren und 400 Angestellte befehligte, ein, in die Zentrale des Credit Minier. Georges Clemenceau, der Schriftsteller und Politiker, der als Fürsprecher von Alfred Dreyfuß bekannt geworden ist, hatte den Auftrag gegeben. Er war fest entschlossen, den Fall möglichst schnell und rücksichtslos aufzuklären, denn ein weiterer negativ ausgehender Fall in diesen skandalbelasteten Jahren wäre schlecht für seine Partei gewesen. „Alles ist unter Kontrolle“ war seine Devise.
Detekteien wurde befohlen, den Beschuldigten in Untersuchungshaft abzuführen. Er wurde in das Gefängnis gesteckt. Es folgten jede Menge immer größere Skandale, denn immer mehr weltbekannte Persönlichkeiten, wurden als Opfer Henri Rochettes bloßgestellt. Der Prozess begann schnell, aber er sollte sich lange hinziehen. Die wildesten und verheerendsten Gerüchte kamen auf. Alleine hätte er so etwas gar nicht schaffen können: Er musste Freunde in der Politik gehabt haben! Aber wen? Namen wurden genannt, wie Albert Dalimier (Abgeordneter für das Departement Seine-et-Oise), Fernand Rabier (Abgeordneter des Departements Loiret) oder gar Jean Cruppi (Abgeordneter der Haute-Garonne – und seit Januar dieses Jahres Minister für Handel und Industrie)!
Über Jahre hinweg stritten sich Anhänger und Gegner (zu welchen auch der Marineminister Monis gehörte) über Rochettes Schuld, immer wieder wurde versucht, den Polizeipräfekten, der die Verhaftung herbeigeführt hatte, von seinem Amt zu vertreiben. Zu den Anhängern gesellten sich auch die hochgestellten Opfer, die nicht wollten, dass diese Peinlichkeit als solche publik würde, und dazu noch die Behörden, die nicht wahrhaben wollten, dass sie jahrelang auf solch einen Betrüger hereingefallen waren. Über Monate hatte in der Tat niemand bemerkt, wie über hundert Millionen Franken aus den verschiedensten Händen im Nichts verschwanden. Clemenceau besprach sich täglich und teilweise unter vier Augen mit Präfekt Lepine, aber auch mit Justizminister Briand. Rochettes Anwalt Ferdinand Rabier hatte alle Hände voll zu tun.
Schließlich wurde eine Untersuchungskommission unter Mr. Jaurös gebildet, die die Gerüchte überprüfen und Licht ins Dunkel bringen sollte. Jede Menge hochgestellter Persönlichkeiten mussten heimlich beschattet werden, ob sie bei dem Geschäft verwickelt gewesen waren. Doch sie kam zu wenigen Ergebnissen und sank zur Bedeutungslosigkeit hinab, obwohl sie noch weiter existierte und bei weiteren Skandalen (wie dem Mord-Skandal der Frau Calliaux) tätig wurde. Allerdings wurde ihr Vorsitzender nicht müde, die Umstände in Frankreich zu verurteilen, „unter denen solches Betrügerwesen überhaupt erst gedeihen könnten“ (zit. nach http://ilyaunsiecle.blog.lemonde.fr/2008...rochette/, eigene Übersetzung).
Schließlich wurde Rochette zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Das kümmerte ihn jedoch herzlich wenig. Denn das Gericht war ihm ebenfalls auf den Leim gegangen und hatte ihn für die Dauer seines Prozesses aus der Untersuchungshaft entlassen. 200.000 Franken hatte er als „Pfand“ zahlen müssen, damit er wieder zurückkomme, doch dieser „relativ kleine“ Betrag war ihm egal. Er hatte sich nach Mexiko abgesetzt und dort einen kleinen Landsitz errichtet.
Doch die Folgen des Skandals waren noch weitreichender: Die Presse beschuldigte den Finanzminister Calliaux, widerrechtlich eingegriffen zu haben. Der Beschuldigte trat darauf zurück. Insgesamt war bei dem Skandal ein Verlust von 150 Millionen Franken aufgetreten. Mehrere Opfer begingen Selbstmord. Mehrmals schlief der Prozess für Jahre ein. Doch er wurde immer wieder neu angefacht (so 1910, 1914, 1919 und 1927), und am 13. März 1927 gelang es, den entflohenen Betrüger wieder festzunehmen. Er wurde in eine einsame Zelle im „Prison de la Sante“ gesteckt. Als Rochette dann 1934 schließlich für schuldig befunden wurde, war beging er am 14. oder 15. April Selbstmord, in dem er sich die Kehle durchschnitt. Sein Bruder tötete sich ebenfalls. Im gleichen Jahr noch kam seine Autobiographie, „L’heure de Spartacus“ (übersetzt „Spartakus’ Stunde“) heraus.
Tatsächlich war er ein Spartakus gewesen: Ein einfacher Mann, der große Bedeutung erlangte. Doch während Spartakus für die Menschenrechte kämpfte und sich mit Gleichgesinnten zusammentat, arbeitete Rochette aus Gewinnsucht und für sich selbst. Er ist ein gutes Beispiel für die Zeit der Skandale in ganz Europa und besonders in Frankreich.

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18.10.2012, 20:25
Beitrag: #4
RE: Henri Rochette
Schließlich noch meine Quellen:

Prof. Gürlich: Weltgeschichte. Vom Altertum bis zur Jetztzeit. Wilhelm Köhler Verlag Minden (Westf.) Druckjahr unbekannt (in den fühen 60er Jahren). S. 531
Liechtensteiner Volksblatt vom 17. April 1914, Seite 2 (online unter http://www.eliechtensteinensia.li/LIVB/1...ite_2.pdf, abgerufen am 24. 08. 2012, 12:00 Uhr)
Simplicissimus, 19. Jahrgang, 2. Ausgabe, 13. April 1914, Seite 24, (online unter http://www.simplicissimus.info/uploads/t...19_02.pdf, abgerufen am 24. 08. 2012, 12:45 Uhr)
The Tuscaloosa News vom 15. April 1934, Seite 1 (online, aber fast nicht lesbar unter http://news.google.com/newspapers?nid=18...1,4925282, abgerufen am 24. 08. 2012, 12:38 Uhr)
The Age vom 17. April 1934, Seite 11 (online, aber ebenfalls fast nicht wirklich lesbar unter http://news.google.com/newspapers?nid=13...4,4335712, abgerufen am 24. 08. 2012, 12:41 Uhr)
New York Times vom 24. März 1908 (online unter http://news.google.com/newspapers?nid=13...4,4335712, abgerufen am 24. 08. 2012, 12:46 Uhr)
New York Times vom 19. April 1908 (online unter http://query.nytimes.com/mem/archive-fre...B888CF1D3, abgerufen am 24. 08. 2012, 13:05 Uhr)
New York Times vom 9. Mai 1908 (online unter http://query.nytimes.com/mem/archive-fre...B888CF1D3, abgerufen am 24. 08. 2012, 12:49 Uhr)
New York Times vom 28. März 1908 (online unter http://query.nytimes.com/mem/archive-fre...B888CF1D3, abgerufen am 24. 08. 2012, 12:59 Uhr)
New York Times vom 15. März 1927 (online unter http://select.nytimes.com/gst/abstract.h...F438285F9, abgerufen am 24. 08. 2012, 13:08 Uhr)
„Succés“ vom 12. November 1910 (online unter http://deja-vu.blogue.fr/la-finance-voil...bre-1910/, abgerufen am 24. 08. 2012, 13:16 Uhr)
http://ilyaunsiecle.blog.lemonde.fr/2008...-rochette/ (abgerufen am 24. 08. 2012, 11:35 Uhr)

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