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Armut im Mittelalter
02.01.2017, 16:04
Beitrag: #4
RE: Armut in Mittelalter
(02.01.2017 13:23)Teresa C. schrieb:  Übrigens habe ich im "Nirwana" eine Anmerkung gefunden, dass Armut im Mittelalter auch bedeutete, keine Familie zu haben. Offensichtlich war diese im Vergleich zu heute ein äußerst wichtiger Faktor.

Auf diesen Aspekt spielt vielleicht auch ein literarisches Werk der nordischen Literatur, die "Thidrek-Saga", in der es auch um die Nibelungensage geht, an. Sigurd (Siegfried) ist sicher keiner der Armen, er ist hier ein Königssohn, aber ohne Familie. Brunhild gegenüber, die zumindest als "Gutbesitzerin" hier besser gestellt ist, als er, begründet er seine Ehe mit Gudrun (Kriemhild) damit: er hätte Gudrun genommen, da sie Brüder hätte, die Brunhild nicht hat. Die Ehe zwischen Brunhild und seinem jetzigen Schwager Gunnar (Gunther) will er hier übrigens auch stiften, um Brunhild zu einem "guten" Mann zu verhelfen. Er will also Brunhild ebenfalls zu einer Familie verhelfen, und sie so wohl auch dafür entschädigen, dass er nicht sie, sondern eine andere genommen hat.

Sind die "Brüder" von Gudrun also nur eine faule Ausrede, wie es in der Sekundärliteratur oft behauptet wird, oder ist das aus dem historischen Kontext doch eine sinnvolle und nachvollziehbare Begründung? Gudrun (Kriemhild) bietet Sigurd (Siegfried) hier die Zugehörigkeit zu einer Familie, was im Mittelalter offensichtlichh eine gewichtige Option ist. Wer keine Familie hat, ist bereits arm.

Umgedreht lässt sich aus dieser Ansicht auch der Nepotismus vieler Kirchendiener erklären. Die Familie hatte einen so hohen Stellenwert, dass man mit allen Mitteln, auch zu Lasten der Kirche, Angehörige der Familie förderte.

Bei Handwerkern und Kaufleuten, aber auch bei Wirten, Müllern oder nicht leibeigenen Bauern war es nicht unüblich, dass nach dem Tod des Meisters ein Geselle die Witwe heiratete und das Geschäft für die minderjährigen Kinder seines Vorgängers fortführte. Für den oft zugewanderten Gesellen bedeutete die Heirat auch eine Zugehörigkeit zu einer Familie.

In der Frühen Neuzeit werden sich solche Bräuche nicht geändert haben. Ein Beispiel, wie wichtig eine Familie für jede einzelne Person war, zeigt z.B. die Familie des Komponisten Johann Sebastian Bach (1685–1750). Er war bereits im Alter von 10 Jahren Vollwaise und wurde gemeinsam mit einem anderen Bruder im Haushalt des ältesten Bruder aufgenommen. Später, Bach war bereits Thomaskantor in Leipzig, lebte Bachs verwaister Neffe im Haushalt des selbst kinderreichen Komponisten.

Bach war zweimal verheiratet. Bei seiner ersten Eheschließung mit seiner Cousine zweiten Grades Maria Barbara musste er sich verpflichten, die ältere Schwester seiner Frau mit in seinem Haushalt aufzunehmen. Offensichtlich befürchteteten die Zieheltern der verwaisten jungen Frauen, die Ältere nicht unter die Haube zu bekommen. Bach behielt seine Schwägerin zeit ihres Lebens in seinem Haushalt, auch nachdem seine erste Frau verstorben war und er eine zweite Ehe einging.

Bachs älteste Tochter Catherina (aus erster Ehe) half dann später ihrer Stiefmutter Anna Maria im Haushalt und verzichtete auf eine eigene Familie. Nach dem Tod Bachs blieben die Frauen zusammen. Anna Maria bekam bis zu ihrem Tod im Jahr 1760 von der Stadt ein Almosengeld, dies ist eine Art Witwenrente. Inwieweit Catherina nach dem Tod ihrer Stiefmutter von der Stadt oder ihren Brüdern versorgt wurde, entzieht sich meinen momentanen Kenntnisstand.

Bei meinen Recherchen habe ich festgestellt, dass es im heutigen Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt bürgerliche Familienverbände gab, die häufig als Gelehrte/Pastoren, Komponisten/Musiker, Baumeister oder Händler arbeiteten und sich gegenseitig unterstützten. Eine Familie bedeutete soziale Absicherung und wer keine hatte, war arm dran.

Aurora von Königsmarck (1662–1728) muss nach dem mysteriösen Tod ihres Bruders Philipp befürchtet haben, ebenfalls ohne Familie dazustehen. Zumindest war ihre gesellschaftliche Situation im Jahre 1694 als 32-jährige Unverheiratete prekär. Solange der Tod ihres Bruders nicht bestätigt wurde, waren ihre Schwester und sie nicht erbberechtigt. Die Schwester war zumindest verheiratet, aber Aurora musste zumindest einen gesellschaftlichen Abstieg und auch Mittellosigkeit befürchten. An einer Aufklärung des Schicksals von Philipp von Königsmarck bestand jedoch kein Interesse. Er wurde wegen seiner Beziehung zu Sophie Dorothea von Braunschweig-Lüneburg (Prinzessin von Ahlden) ermordet und die Welfen in Hannover bemühten sich diese Angelegenheit unterm Teppich zu kehren.

In dieser Situation war für Aurora die Begegnung mit dem sächsischen Kurfürsten August den Starken ein Glücksfall, der halbherzig eine Untersuchung des Falles einforderte. Wichtiger für Aurora: Der gemeinsame, von August anerkannte Sohn Moritz garantierte schon allein eine Altersabsicherung. Aurora wurde Dank des Kurfürsten schließlich Äbtissin von Quedlinburg und sie adoptierte die Türkin Fatima, die etwa um 1704 bis 1706 als Frau von Spiegel Mätresse des Kurfürsten war und ihm zwei Kinder gebar, darunter den Fürsten Rutkowski, der wie sein Halbbruder Moritz ein erfolgreicher Feldherr wurde.

"Geschichte erleuchtet den Verstand, veredelt das Herz, spornt den Willen und lenkt ihn auf höhere Ziele." Cicero
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