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Warum interessiert niemanden die extreme Jugendarbeitslosigkeit in Europa?
10.05.2014, 10:26
Beitrag: #52
RE: Warum interessiert niemanden die extreme Jugendarbeitslosigkeit in Europa?
(10.05.2014 08:05)Suebe schrieb:  Man hat vor lauter Warmduscherei und Verteufelung des ach so schlimmen Leistungsdrucks geschafft, dass sich alles nur noch an den Backpflaumen ausrichtet.
Vor lauter Chancengleichheit hat inzwischen keiner, der von der Hauptschule kommt, mehr eine Chance.
Es sei denn, er findet Förderer wie die von dir genannte Privatstiftung? Stimmt, aber kann es doch nicht sein, das ist auch nicht die ganze Wahrheit.
Andersrum wird nämlich ein Schuh draus. Es sind nicht die "Kuschelpädagogen", die das Schulsystem und insbesondere die Hauptschüler bzw. die Hauptschule "verdorben" haben.

Denn nach deiner Argumentation hat man an der Hauptschule die Anforderungen so weit heruntergeschraubt, bis auch die letzte "Backpflaume" noch den Quali schaffte, und zwar - jetzt kommt´s - weil man nicht dem Leistungsdruck fröhnen wollte, sondern der Chancengleicheit.
Was heißt das?
Diejenigen, die von (zu) Hause aus weniger Chancen auf Bildung hatten, sollten mitgezogen werden und ihnen dadurch ebenfalls Bildung ermöglicht werden. Nach deiner Argumentation hat das dazu geführt, dass ALLE Hauptschüler WENIGER Bildung bekamen.
Der Hund liegt aber woanders begraben, und keineswegs durchweg "im Kopf des Fisches".

Einerseits wurden die Schulen vor allem finanziell sträflich vernachlässigt, von den (Lokal- und Regional-) Politikern, insofern "stinkt der Fisch tatsächlich vom Kopf her". Wenn ich keine Lehrer einstelle und stattdessen Klassen mit 32 Schülern zulasse, ja sogar für normal halte, wenn ich den Schulen keine Erweiterungen und Modernisierungsmaßnahmen bezahle, brauche ich mich nicht wundern, wenn Schüler und Lehrer überfordert sind mit Megaklassen in winzigen Klassenzimmern mit Kreide und Tafel als einzigem Unterrichtsmaterial (wobei ich nichts gegen die gute alte Kreidetafel habe, aber nur, wenn sie EIN Unterrichtsmittel unter mehreren ist).

Andererseits ist die Hauptschule aber zur "Resterampe" verkommen - und das ist das eigentliche Problem, die Pädagogik hat hier nur reagiert, nicht agiert -, weil spätestens seit den 80ern der Hauptschulabschluss nicht mehr als "zukunftsträchtiger" Abschluss akzeptiert worden ist. Ums überspitzt zu sagen: Wer in der 4.Klasse den Zahlenraum bis 20 beherrschte und Buchstaben malen konnte, wurde von den Eltern (!) als würdig erachtet, mindestens aufs Gymnasium zu gehen. Die Vorarbeit haben wiederum die Politker geleistet: In den 70ern wurden überall neue Gymnasien (und Unis) hochgezogen, so dass der Besuch eines Gymnasiums nicht mehr den Wegzug in die nächste Großstadt bedeutete und auch eine nahe gelegene Studiermöglichkeit fast überall gegeben war. Die begeisterten Eltern haben dann aber auch wieder übertrieben. Am Schluss der Entwicklung stand die Tatsache, dass nur noch die Kinder auf der Hauptschule blieben, die es absolut nicht schafften, auf die Realschule oder gar aufs Gymnasium zu gehen. Eine "Bildungshierarchie", die vom System her aber auch schon angelegt war, war die Folge: Als "gescheit" galt nur noch das Kind, das es auf eine weiterführende Schule schaffte, das Gymnasium war mehr wert als die Realschule und die Kinder, die auf die Hauptschule gingen, waren nicht gescheit, sondern gescheitert. Mit 10 Jahren gescheitert? Wie wird jemand, der einen solchen Stempel aufgedrückt bekommen hat, wohl sein Leben planen und führen?
Vergessen wurde dabei, dass das dreiteilige Schulsystem schon mal Sinn machte, weil die verschiedenen Schularten für jeweils andersgeartete Zwecek ausgelegt waren: Die Hauptschule sollte Handwerker und Arbeiter produzieren, die Realschule Büromenschen und das Gymnasium Studenten und Gelehrte. Natürlich war auch damals - vor den 70ern - der Gymnasiast viel mehr angesehen als der Volksschüler. Gab ja auch viel weniger Gymnasiasten, und das Gymnasium sagte nicht nur etwas über die Lateinlernfähigkeit der Schüler, sondern auch etwas über den Finanzrahmen der Eltern aus.
Aber in den 80ern wurde aus dem Wechsel vom Gymnasium "zurück" an die Realschule, weil vielleicht der Schüler mit dem Lerntempo und dem Lernstoff des Gymnasiums nicht klar kam und an der Realschule mit ihren anderen Lerninihalten und Lernmethoden besser aufgehoben war, ein "Abstieg". Hier schließt sich der Kreis: Die Eltern wollten ihren Kindern ein bestmögliche Zukunft garantieren (was sowieso nur in begrenztem Umfang möglich ist) und sie vor dem Abstieg bewahren, den Kindern sollte es ja besser gehen als den (oft "nur" auf der Volksschule gewesenen) Eltern.

Nun sind wir wieder am Anfang angekommen: Bei dem Stand der Schulentwicklung, bei dem sich in der Hauptschule diejenigen sammeln, die ohnehin wenig Chancen haben. Die Hauptschule als Resterampe also.
Einerseits wurde es jetzt für die Politiker unattraktiv, Hauptschulen zu fördern. Diejenigen, auf deren Meinung die Politiker Wert legten, hatten ihre Kinder auf Gymnasium oder Realschule, also wurde hier - wenn überhaupt - investiert.
Andererseits wurden die Hauptschulen oft zu spzialen Brennpunkten, also musste hier was getan werden. Aber was? Mehr Lehrer? Mehr Sozialpädagogen (Entwicklung der 90er Jahre und des PISA-Schocks)? Kostet Geld. Geld hatten die Kommunen und Länder nicht, zumindest nicht für Bildung. Folge: Die Hauptschulen verkamen immer mehr. Und verloren immer mehr an Ansehen, nur zum Teil zu Recht. Denn die klassischen Arbeitgeber für Hauptschüler - Handwerker z.B. - merkten immer mehr, dass die Hauptschüler, die zu ihnen kamen, oft nicht einmal die niedrigsten Anforderungen bezüglich Bildung und Sozialverhalten erfüllten. Also orientierten sie sich um: Schreiner, Metzger, Metallhandwerker suchten ihre Lehrlinge erst gar nicht mehr bei den Hauptschülern, sondern forderten Mittlere Reife oder gar Abitur. Die Hauptschüler hatten noch weniger Chancen, die Hauptschulen verkamen noch mehr.

"Der Fisch stinkt vom Kopf her" ist also eine nur teilweise richtige Analyse der Bildungsmisere und der Gründe für die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Das Ganze ist ein gesellschaftliches Phänomen mit mehreren Querbezügen, das sich nicht monokausal begründen und auch nicht monokausal beheben lässt.

Eine Lösung? Nicht in Sicht. Zu kompliziert, zu teuer. Denn - meine Meinung - letzten Endes würde Geld helfen. Mittlerweile, nachdem die Angelegenheit jahrzehntelang liegen gelassen wurde, richtig viel Geld, aber immerhin.
Das Ignorieren des "Hauptschulproblems" mit vernachlässigten Schülern, die dadurch nur noch mehr vernachlässigt werden, und die Umetikettierung der Hauptschulen in "Mittelschulen" oder Ähnliches bringt gar nichts, wenn dadurch nur die Schulen größer werden, aber des Lehrer-Schüler-Verhaltnis sich sowohl qualitativ als auch quantitativ nicht ändert. Es werden gebraucht: Mehr Lehrer, die auf die Probleme der Schüler genauer eingehen können. Kann der Schüler in der 4. Klasse immer noch nicht flüssig lesen, weil bei ihm zu Hause kein Deutsch gesprochen wird? Oder liegt´s daran, dass zu Hause nicht gelesen wird, nicht einmal Zeitung? Oder liegt´s daran, dass der Schüler zu Hause allein gelassen wird mit Hausaufgaben, Lernen, etc.? Oder liegt´s daran, dass der Schüler anders lernt als der Lehrplan von ihm erwartet? Langsamer? Schneller? Dass ein Entwicklungsschub noch aussteht, der aber gebraucht wird, damit die schulischen Anforderungen erfüllt werden können? (sowieso ein unsäglicher Begriff: Der Schüler nicht als jemand, der "Kunde" des Schulsystems ist, sonderns als jemand, an den man Forderungen stellt...)
'Das häufige Auftauchen des Begriffs "zu Hause" ist hier kein Zufall. In jedem Erziehungsgesetz steht, dass Schule UND Eltern ZUSAMMENARBEITEN sollen bei der Erziehung des Schülers. Wenn aber die beiden pädagogischen Mitwirkenden NICHT zusammenarbeiten, wird das nix. Ist so eine Zusammenarbeit also nicht vorhanden, muss auch jeamnd da sein, der mit den Eltern arbeitet, damit die dann wiederum einsehen oder fähig werden, mit den Kindern zu "arbeiten". Viele Hauptschulen haben so ein "Elterncoaching" aus eigener Kraft auf die Beine gestellt, mit guten Erfolgen. Aber eben allein, ohne Hilfe des eigentlich verantwortlichen "Finanzaufwandträgers", der Kommune oder des Landes also. Wir sind schon wieder biem Thema Geld angekommen.

Angefangen hat das ganze Problem dabei, dass man die Basis der (Bildungs-)Gesellschaft vernachlässigt hat, denn nichts anderes ist die Grund-/Hauptschule ursprünglich gewesen. Diesen Fehler wieder gut zu machen, dürfte auch mit noch so viel Geld nicht mehr möglich sein, aber man kann´s doch wenigstens mal versuchen...

Ich habe übrigens bisher vernachlässigt, dass es natürlich noch einen Problemkreis gibt, der die Hauptschule zur "Probelmschule" macht: Wenn ich eine dritte oder gar schon erste Klasse hab, in der "nur" zwei Jungs oder Mädels sitzen, die es gar nicht einsehen, warum sie still sitzen sollten, nur weil der Lehrer es verlangt, die um sich schlagen, sowie sie sich beleidigt vorkommen (!), dann geht das erstens zu Lasten der Konzentrationsfähigkeit der ganzen Klasse und zweitens wird sich so jemand niemals irgendwo einfügen können. Ergo bleibt der-/diejenige auch Arbeitsplatztechnisch auf der Strecke.
Und: Auch dank unseres vielgliederigen Schulsystems ist es möglich, mit Hauptschulabschluss es bis auf die Uni zu schaffen. Das geht nämlich auch über die beruflichen Schulen, also Wirtschaftsschulen oder Berufsoberschulen oder wie sie alle heißen. So mancher Schüler hat es so schon zum Ingenieur geschafft. Voraussetzung ist aber immer ein erlernter Beruf. Wer diesen entscheidenden Sprung nicht schafft, der ist für die Gesellschaft verloren, der wird auch immer auf staatliche Hilfen angewiesen sein, es sei denn, er hat Riesenglück und schafft den "Turnaround" auf unkonventionelle Weise, wie auch immer.

VG
Christian
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