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Der Meisterschütze und der "Apfel"
05.06.2016, 20:56
Beitrag: #13
RE: Der Meisterschütze und der "Apfel"
In der Folge einige Überlegungen Über Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Adaptionen der verschiedenen Apfelschuss-Sagen. Also spätestens ab hier kann es langweiligen werden Big Grin

Die verschiedenen überlieferten Meisterschüsse unterscheiden sich trotz aller vorhandenen Gemeinsamkeiten, die auf einen gemeinsamen Ursprung hinweisen, deutlich voneinander. Die Art des Zieles und der Verwandtschaftsgrad des Angehörigen des Helden unterscheiden sich beträchtlich. Übrig bleibt, als Gemeinsamkeit, dass es sich um einen Schuss auf einen schwer zu treffenden Gegenstand handelt, der auf dem Kopf eines nahen Verwandten placiert wird. Auch die Reaktionen des Kontrahenten auf die Drohung des Helden, die restlichen Pfeile seien bei einem Fehlschuss dem Tyrannen zugedacht, scheinen auf den ersten Blick recht unterschiedlich zu sein. Das Ende des Tyrannen wird ebenfalls recht unterschiedlich überliefert. Die Waffe, mit der der Meisterschuss ausgeführt wird, ist meistens der Bogen, während sich Tell dabei der Armbrust bedient.

Wenn man nach den Gemeinsamkeiten der verschiedenen Apfelschussgeschichten fragt, findet sich sowohl bei Toko als auch bei Heming den Apfelschuss nicht isoliert, sondern in Verbindung mit einer Skifahrt. Daraus lässt sich schliessen, dass die Heldentat des Dänen Toko der norwegischen Heming-Sage entnommen sein muss, da, um einen wichtigen Grund zu nennen, der Skilauf in Dänemark zur Zeit der Niederschrift der Chronik des Saxo Grammaticus, eine unbekannte Kunst war.

Auffallend ist, dass Toko und Heming als Höhepunkt ihrer Abenteuer eine rasante Skifahrt und nicht einen Meisterschuss zu absolvieren haben. Die Verquickung dieser beiden Proben findet sich jedoch in der Urfassung der Sage vermutlich nicht, da der Meisterschuss zum Beispiel bei Egil auch allein überliefert ist. Die Heming-Erzählung, die später Tokos Taten „beeinflusste“, wird also zur ursprünglichen Trägerin der Probe mit der Skifahrt, während sich die Geschichte vom Meisterschuss von jeder Person, die bisher aufgeführt wurde, löst. Denn auch Toko kann leider nicht zum Stammvater der Meisterschützen werden, da diese Figur auf der Heming-Erzählung basiert und ausserdem erst nach ihrem ersten literarischen Auftauchen zu ihrem Apfelschuss kam, genau wie Egil, dessen Erzählung überdies noch der Folgerichtigkeit ermangelt. Und die Geschichte von Eindridi erweist sich bei näherem Zusehen wegen der Übernahme des Wettkampfschemas eindeutig als Weiterentwicklung der Heminggeschichte. Der erste Skichampion aller Zeiten wäre also in Heming glücklicht gefunden. Der Patriarch der Apfelschützen jedoch bleibt, vorerst wenigstens, unbekannt.

Fast man die vier Überlieferungsquellen der nordischen Meisterschuss-Sagen ins Auge, so stösst man unweigerlich auf einen weiteren gemeinsamen Punkt. Alle Mutproben spielen sich vor einem recht ähnlichen politischen Hintergrund ab, vor der Auseinandersetzung zwischen den Vertretern eines aufstrebenden Königtums und der alten grossbäuerlichen Freiheit, die sich in Norwegen im 10. und 11. Jahrhundert abgespielt hat. Diese Machtprobe zeigt sich besonders deutlich bei Toko und Heming, die durch einen reinen Willkürakt des Herrschers zum gefährlichen Schuss gezwungen werden. Überall steckt der Held – mit Ausnahme des Herrn Eindridi Breitferse, der überhaupt nicht schiesst – die Reservepfeile, mit denen er sich bei einem Versagen seiner Hand gerächt hätte, in das Göller, und spricht die berühmte Drohung gegen den König aus. Diese Drohung weist den Weg zur Lösung des Problems mit den verschiedenen Überlieferungsversionen. Es ist zu überlegen, wie sich die Apfelschussgeschichte aus ihren Voraussetzungen heraus abgespielt hat. Dabei darf getrost angenommen werden, dass eine Drohung gegen einen Herrscher, der den Schützen kurz zuvor selbst mit dem Tode bedroht hat, nicht einfach in der Luft verpuffen, dass heisst, stillschweigend übergangen werden oder sogar noch mit Beifall aufgenommen werden kann.

Ein König, der den Schützen zuerst mit dem Tode bedroht und ihn nachher dafür belobigt, dass er bei einem Fehlschuss ein Attentat auf ihn verübt hätte, ist ein Widerspruch in sich. Besonders deutlich wird die Folgerichtigkeit bei der auf Heming basierenden Geschichte von Eindridi gestört, die nun auch den Meisterschuss des Königs, der immerhin den Verwandten des Schützen in Lebensgefahr bringt, zu einer blossen Schützenprobe degradiert. Dem Zweck dieser Bekehrungslegende entsprechend kann dabei allerdings zum vornherein nichts schief gehen, da ja der Herrgott persönlich seinem König den Bogen führt, um eine heidnische Seele zum Christentum zu bekehren.

Solche inneren Widersprüche, die sich besonders bei der Heming- und der Egil-Erzählung darlegen lassen, führen zur berechtigten Vermutung, dass die Chronisten die ursprüngliche Apfelschuss-Sage den Bedürfnissen ihrer Stoffes entsprechende gestaltet und nicht unverfälscht in ihre Werke aufgenommen haben.

Alle nordischen Apfelschüsse spielen sich im Norwegen des 10. / 11. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen einem Einheitskönigtum, das seine Macht auf das ganze Land auszudehnen versucht, und einem freien Bauerntum ab, dessen Führer sich dieser Zentralisierung widersetzten. Träger der einheitlichen Reichsidee waren dabei die historisch belegbaren Könige Olaf I Tryggvason, Olaf II der Heilige und Harald III der Harte, die sich mit der christlichen Kirche verbunden hatten. Auf der Gegenseite standen die alten Geschlechter der Bauernführer in den einzelnen Talschaften oder Regionen, die sich oft nicht nur gegen das Einheitskönigtum sondern auch gegen die Christianisierung durch Bekehrerkönige sträubten. Diese recht dramatisch verlaufenden Kämpfe endeten mit dem völligen Triumph des Königtums und der mehr oder meist weniger freiwilligen Einordnung der führenden Bauerngeschlechter in die neue Staatsform. Mit dem Einzug des Christentums in Skandinavien endete gewissermassen auch das freie Bauerntum.

Auf diesem Grunde ist die von den Königen geförderte norwegische Überlieferung in erster Linie eine Königs- und gleichzeitig eine Bekehrungsgeschichte, also eine Aufzeichnung jener Partei, die sich durchsetzten konnte.

In diesen Rahmen passte nun die oft nur mündlich überlieferte bäuerliche Tradition, der ja auch die Geschichte vom bösen König und dem guten Schützen angehört, wahrhaftig wie die Faust aufs Auge. Wie sollte sich auch plötzlich das Bild eines rabenschwarzen tyrannischen Königs, der seine Untertanen zu verbrecherischen Meisterleistungen zwingt, mit den rosarot angehauchten Königsportraits vertragen, mit denen der Rest der Chronik angefüllt war ? Dieser Widerspruch blieb natürlich auch den Chronisten nicht verborgen. Da sie dennoch nicht auf die höchst interessante Geschichte mit dem Apfelschützen verzichten wollten, zimmerten sie die Sage eben nach ihren Bedürfnissen zurecht.

So wird der Schluss der Henning-Geschichte, der ja nach der inneren Folgerichtigkeit der Sage für den König tragisch ausgehen müsste, einfach dadurch abgebogen, dass der Chronist den Helden durch den Heiligen Olaf retten lässt, dem er versprechen muss, auf jede Rache zu verzichten.

Auch bei Eindridi wird der Apfelschuss christlich übermalt und bar jeder inneren Logik zu einer Bekehrerlegende umfunktioniert. Und der Chronist, der die Taten Egils in den Wielandroman der Dietrichssage einfügte, geht auch nicht gerade zimperlich mit dem Stoff um und lässt zum Beispiel den König die Antwort des Helden, dass er sich bei einem Fehlschuss an ihm gerächt haben würde, mit Beifall aufnehmen.

Es besteht nun allen Grund zur Annahme, dass die Apfelschusshistorie von Wilhelm Tell, Hauptbestandteil der Befreiungssage, von der Toko-Erzählung abstammt, mit der sie zu einem wesentlichen Teil übereinstimmt. Eine direkte Übernahme des Textes des Werkes des Saxo Grammaticus in das Weisse Buch von Sarnen muss jedoch aus den verschiedensten Gründen ausgeschlossen werden. Es lässt sich kein direkter, wohl aber ein mittelbarer Einfluss nachweisen.

Möglicherweise haben wandernde Literaten oder Spielleute, Predigermönche oder Rompilger, die im 15. Jahrhundert von Norden nach Süden halb Europa durchstreiften, in ihrem Herkunftsland irgendeine an Saxo angelehnte Version der Sage gehört und sie, sei es in gereimter Form oder als einfache Erzählung, mündlich weitergegeben. Auf diese Weise könnte die nordische Sage auch in das deutschsprachige Gebiet vorgedrungen sein, wo sie bald zum allgemeinen Bildungsgut gehört haben dürfte. Wenn es sich nicht, wie andere Forscher meinen, sogar um ein Sagenmotiv handelt, das allgemein verbreitet war. Denn die Geschichte vom Meisterschützen ist damals innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne an zwei verschiedenen Orten aufgezeichnet worden: 1420 / 1470 im Weissen Buch von Sarnen und 1487 im Hexenhammer, der in Strassburg gedruckt wurde.

Allerdings lässt sich im Mittelalter zwar ein mannigfacher Kulturexport vom Süden in den Norden nachweisen. In umgekehrter Richtung jedoch reicht die Zunge der nordischen Kultur viel seltener bis in südliche Breiten hinunter. Dass trotzdem ein Austausch von Sagengut vom Norden nach Süden stattgefunden hat, beweist die Geschichte eines Eisbären in einer Sage, die sich in Norwegen nachweisen lässt. Diesen Bären lässt der norwegische König seinem dänischen Kollegen von einem wandernden Bärenführer als Geschenk überbringen. Ein ostdeutscher Dichter, wahrscheinlich Heinrich von Freiberg, hat die schwankhafte Volkssage vor 1300 in einer mittelhochdeutschen Versnovelle verwendet. Norwegisches Erzählgut ist also Hunderte von Kilometern entfernt in deutschem Gebiet dichterisch gestaltet worden.

Ein weiterer Sagenaustausch von Norden nach Süden zeigt sich in dem wachsenden Appetit eines Drachens, der sich zuerst artig erschlagen lässt, aber später Menschen zu fressen beginnt. Konrad Justinger, der Stadtschreiber von Bern, führt das Tier zum ersten Mal um 1420 in seiner Berner Chronik vor, im Zusammenhang mit der Gründungssage von Burgdorf. Die Festung Burgdorf soll laut alten Berichten von den beiden Brüdern Sintran und Baltran, beides Grafen von Lenzburg, gegründet worden sein, die dort einen Drachen erschlagen hätten. Beide Herren tauchen zusammen mit dem Lindwurm 240 Jahre später in einer Schrift des Luzerners Johann Leopold Cysat wieder auf. Zum Unterschied zur ersten Version wurde diesmal der Kronzeuge Baltran vom Drachen aufgefressen und von seinem Bruder wieder aus dem Drachenmaul herausgeholt.

Den Appetit auf Baltran hat nur der Luzerner Cysat nicht etwa dem Berner Justinger, der darüber nichts berichtet, sondern der Thidrekssage, der nordischen Version der Dietrichssaga, entnommen. Die Thidrekssaga entstand spätestens im 13. Jahrhundert. Justinger weiss 1420 noch nichts von einer Befreiung aus dem Drachen, Cysat dagegen ist 1661 bestens über das Menu des Untiers unterrichtet. Also muss das nordische Motiv vom Baltranfressenden Drachen aus der Thidrekssaga zwischen 1420 und 1661 auch in der Gegend der heutigen Schweiz Verbreitung gefunden haben. Womit auch ein weiterer Beweis für die Wanderung eines Sagenmotivs vom Norden in den Süden erbracht wäre. Die Wanderung der Apfelschuss-Sage von Norden nach Süden wird allerdings vermutlich nie mit völliger Sicherheit belegt werden können.

In der Innerschweiz traf die Apfelschuss-Sage jedenfalls gewissermassen auf den einzigen fruchtbaren Nährboden, der eine Adaptierung an die lokalen Verhältnisse ermöglichte: Auf den Boden einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Feudalherrschaft und Bauerntum. Überall, wo der „durchreisende“ Tell diese für seine Entwicklung günstigen Verhältnisse nicht vorfand, ist er verkümmert und seines eigentlichen Sinnes, Symbol für die Auflehnung gegen eine tyrannische Macht zu sein, beraubt worden. Entweder lief sein Symbolgehalt der offiziellen Version einer nordischen Königsgeschichte zuwider und ist deshalb entsprechend retouchiert worden, oder der Apfelschuss wurde zu einem blossen Paradestück, zu einer blossen Schmuckfeder, die der Chronist seinen Pfeilhelden sozusagen als Dreingabe auf den Heroenhut steckte.

Die Innerschweiz bot der Sage als einziges Gastland auch noch die Voraussetzung für eine geradezu grandiose Weiterentwicklung. Im Gegensatz zu den nordischen, englischen und deutschen Versionen, die stets interessante und volkstümliche, aber für die „Staatswerdung“ unwichtige Episoden blieben, ist der Apfelschuss des Urner Schützen zur zentralen Befreiungstat und sein Urheber zum „ersten Eidgenossen“ schlechthin geworden, dessen Lorbeerkranz die Chronisten des 15. und 16. Jahrhundert und ihre Nachfolger unverdrossen weiter vergoldet haben.
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RE: Der Meisterschütze und der "Apfel" - Aguyar - 05.06.2016 20:56

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